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Reinhard Niewisch (Senior)

Die Flut

Gedanken zur Flutkatastrophe 2002 in ihren Folgen - Reinhard Niewisch

Da habe ich die ganze Zeit geglaubt, wenn ein Fluss über die Ufer tritt, das liegt ganz einfach daran, dass es plötzlich sehr stark regnet. Ja, von wegen, die alternativen Grünlinge haben dafür eine andere Erklärung: Das liegt nicht am Regen, das liegt am Fluss, jawohl! Seit tausend Jahren oder mehr leiden die Menschen unter Überflutungen. Ihre Ernten werden immer wieder vernichtet, Der Lohn ihrer harten Arbeit wird von einer braunen Brühe weggetragen und ins Meer gespült. Aber was wie braune Brühe aussieht, das ist in Wirklichkeit wertvolles lebendes Ackerland!

Not macht erfinderisch. Wenn man also um die Felder und Gärten Deiche anlegt, dann ist dem Wasser der Zugang verwehrt. Es entsteht ein Polder, auch Koog oder Groden genannt, der das Ackerland gegen Auswaschung schützt. Wer's nicht glauben will, der frage unsere niederländischen Nachbarn, die wissen damit bestens Bescheid. Durch zusätzlichen Einbau von Sielen (Deichschleusen) und Schöpfwerken kann das ganze System regelbar gemacht und der jeweiligen Wetter- Lage angepasst werden. Aber jedes System hat seine Grenzen. Wenn diese Grenzen überschritten werden, kollabiert das System, und es kommt zur Katastrophe. So ist es auch im Sommer 2002 geschehen. Und schon haben die Schlauberger ihre Mäuler aufgerissen und ihre Phantastereien in die Welt hinaus geschrien. "Die Deiche müssen verschwinden, man muss dem Fluss freien Lauf lassen" hieß es, "Die Auen können sehr viel Wasser aufnehmen".

(Können sie nicht, die sind schon voll, denn da hat es auch geregnet. Und wo in tausend Jahren eine Stadt gewachsen ist, da kann man keine Auwälder anlegen.)

Aber gut, die Deichbauer vergangener Zeiten hatten keine Ahnung, die Politiker und Dosensammler wissen es besser. Renaturierung heißt die Parole. Also reißen wir die Pflastersteine raus, machen den Deich platt und lassen der Natur freien Lauf (aber die Steine werden wir nicht wegschmeißen, wir brauchen sie wieder!). Und der Fluss, egal ob es die Wolga im fernen Russland ist oder das unscheinbare Wiesenbächlein hinter unserem Garten, freut sich seiner wiedergewonnenen Freiheit, und benimmt sich so, wie sich ein Fluss eben benimmt: Er mäandert. Wie das geht, kann jeder, der Augen für die Natur hat, beobachten. Irgendwann nach einem kräftigen Regenschauer bröckelt ein Stückchen vom Ufer ab und wird hinweggespült. Das Wasser findet an dieser Stelle weniger Widerstand und fließt schneller. Aber nicht weit, denn an der nächsten Krümmung prallt das Wasser gegen die Uferböschung, die nun zum Prallhang wird. Von nun an wird's dramatisch. Da werden große Grasbüschel, ja sogar ganze Sträucher aus dem Ufer gerissen, das Erdreich wird ausgespült und schon nach einer kurzen Wegstrecke auf der anderen Seite, am Gleithang wieder abgelagert. Der ganze Fluss entwickelt ein unkontrollierbares Eigenleben wie eine Schlange. Er gräbt sich ein neues Bett, und lässt das alte Bett mit allerlei Feuchtgräsern und Sträuchern zuwachsen.

Das musste auch mein Freund Hotte am eigenen Leibe erfahren, als er bei der Erkundung des Stranggrabens, der aus den Strausberger Wiesen kommend bei Hennickendorf in den Stienitzsee mündet, auf einen unterspülten Prallhang getreten war und nun ein unfreiwilliges Schlammbad nahm. Und das auf einem viel benutzten Trampelpfad. Wir Jungs nahmen also zur Kenntnis, dass auch ein Wiesenbächlein sehr tückisch sein kann.

Solange sich der Stranggraben in den sumpfigen Wiesen herumschlängelt, kann uns das völlig egal sein. Mehr noch, wir fördern diese Entwicklung sogar, indem wir solche Landschaften zu Naturschutzgebieten erklären.

Aber - bei aller Liebe zur Natur - wir Menschen haben auch ein Lebensrecht auf diesem Planeten. Und wenn ein Fluss sich anschickt, die Fundamente unserer Häuser anzuknabbern, dann müssen wir von unserem Notwehrrecht Gebrauch machen, und dem Fluss zeigen, wo es lang geht. Wenn wir das aus falsch verstandener Naturliebe nicht tun, wenn wir also unseren Gewässern freien Lauf lassen, dann ist die nächste Flutkatastrophe programmiert. Und unsere Johannisbeersträucher und der Hühnerstall schwimmen ein paar Kilometer stromabwärts davon. Na, Bravo! So kommt es, wenn Unwissenheit zum Dogma erhoben wird. Das Wesensmerkmal eines Dogmas besteht darin, dass die Frage "warum" unter strengem Tabu steht. In diesem Punkt herrscht absolutes Denkverbot. Was einmal gesagt und festgeschrieben ist, das gilt für die Ewigkeit, Nachfragen oder gar Zweifel sind nicht erlaubt.

Dennoch erdreiste ich mich, über das Thema Auwälder und Rückhaltebecken nachzudenken. Ein Rückhaltebecken schützt die darunter liegende Stadt vor Überflutung. Wie lange? Bis das Becken voll ist, dann läuft es über, und die Stadt ersäuft. Ein Auwald (oder meinetwegen Auenwald, ist mir egal) wirkt ähnlich wie ein Rückhaltebecken, nur langsamer. Durch die vielen Bäume und Sträucher wird die Fließgeschwindigkeit des Wassers herabgesetzt, und die Stadt bekommt ein paar Stunden Aufschub, mehr nicht.

Zu Risiken und Nebenwirkungen ...

  1. Die Kapazität eines Auwaldes ist geringer als die eines flächengleichen Rückhaltebeckens, denn wo tausend Bäume stehen, da fehlt Platz für tausend Kubikmeter Wasser. Das gilt verhältnisgleich für jeden Strauch, ja für jeden Grashalm. Jeder Grashalm verdrängt einen Tropfen Wasser, und das sind Milliarden oder Billiarden oder mehr.
  2. Der Auwald erzeugt durch seine Bremswirkung einen Rückstau und gefährdet damit die darüber liegende Stadt (Sankt Florian lässt grüßen).
  3. Der Waldboden weicht auf, die Wurzeln lösen sich , Gräser, Sträucher und schließlich auch Bäume schwimmen davon. Das bedeutet zusätzliche Gefahr für die Unterstadt. Sträucher verklumpen an Brückenpfeilern und Laternen, Jeder Baum wird zum Rammbock und zerstört Häuser, Brücken und Bahngleise.

Stellen wir fest: Wenn Naturgewalt und Menschenwerk auf einander treffen, dann ziehen wir Menschen mit unseren großartigen Werken immer den Kürzeren. Wenn wir versuchen, uns gegen Millionen Kubikmeter Wasser zu stemmen, dann werden wir weggespült wie die Ameisen von der Gießkanne. Aber was können wir tun?

Ganz einfach: Lernen von den Kanalisations-Experten. Wenn in einem Siedlungsgebiet neue Häuser gebaut werden, dann werden die alten engen Rohre ausgebaut und durch größere ersetzt. Das weiß jeder, der mit offenen Augen durch die Welt geht. Die Experten vom Tiefbau wissen genau, warum sie das tun, schließlich haben sie ihr Handwerk gelernt. Ein Meister vom Tiefbau sagte einmal zu mir:

"Die Kollegen vom Hochbau haben es besser. Wenn der Bürger fragt, wo die Millionen Steuergelder geblieben sind, dann zeigen sie stolz auf ihre Wolkenkratzer, Brücken und Türme. Aber wir vom Tiefbau müssen unsere Produkte unter der Erde vergraben, und der Bürger sieht nicht, wo das Geld geblieben ist."

Recht hat er, und das wissen auch die Politiker. Ein Bundeskanzler, der in Gummistiefeln durch den Modder patscht, macht mehr Eindruck als ein unsichtbarer Taucher, der sich bemüht, den aufgeweichten Deich mit Sandsäcken abzudichten.

Aber wie geht es nun weiter? Wenn die Sache mit den Auwäldern und Flutbecken nicht nach unseren Wünschen funktioniert, müssen wir wohl wieder zum altbewährten Deichsystem zurückkehren. Hoffentlich finden wir die Steine wieder, die wir damals aus dem Deich gerissen haben. Vielleicht hat sie jemand nach Recht und Gesetz entsorgt, oder ein anderer hat sie eingesammelt und einen festen Hühnerstall daraus gebaut, der nicht wegschwimmen kann. Wilhelm Busch sagt:

"Doch solcherlei Verdrüsse pflegen die Denkungskräfte anzuregen" .

Also denken wir - trotz Verbot. Für viel Wasser brauchen wir einen weiten Durchfluss, für wenig Wasser genügt ein enges Röhrchen. Irgendwelche Bremsvorrichtungen haben in einem Abflusssystem nichts zu suchen. Wenn das Wasser erst mal abgeflossen ist, kann es keinen Schaden mehr anrichten.

Gut. Solche Überlegungen mögen für die Zukunft interessant sein, im Augenblick aber sitzen wir mittendrin in der Brühe. Trösten wir uns also mit Wilhelm Busch:

Sehr tadelnswert ist unser Tun,
wir sind nicht brav und bieder.
Gesetzt den Fall, es käme nun
Die Sintflut noch mal wieder.

Das wär' ein Zappeln und Geschreck!
Wir tauchten alle unter;
Dann kröchen wir wieder aus dem Dreck
Und wären, wie sonst, recht munter.

Was haben wir nun aus der Flutkatastrophe gelernt? Nichts. Die Aufregung wird sich legen, andere Ereignisse werden unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen.

Reinhard Niewisch, September 2002

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